Alijews Theorie zur Airline-Tragödie

Wenn an seinen Behauptungen über eine Vertuschung etwas Wahres dran ist (und auch das ist zum jetzigen Zeitpunkt reine Spekulation, da die Black Boxes noch nicht analysiert wurden), dann sind persönliche Faktoren die Ursache dafür und nicht eine nationale Verschwörung.

Von Andrew Korybko

Der aserbaidschanische Präsident Ilcham Alijew äußerte in einem Interview, das Sie hier auf Englisch lesen können, eine Theorie zur jüngsten Tragödie der Azerbaijan Airlines. Er ist Absolvent des Moskauer Staatlichen Instituts für Internationale Beziehungen (MGIMO, das dem russischen Außenministerium untersteht). Erst kürzlich hat Alijew das Bündnis seines Landes mit Russland bekräftigt, ein verlässlicher Partner für Russland zu bleiben, und dabei bereits einem enormen Druck aus dem Westen widerstanden. Alijew kann daher wohl nicht vorgeworfen werden, dass er Russland auf Geheiß anderer diffamieren wolle.

Gemäß seinen Äußerungen ist die endgültige Klärung des Vorfalls noch nicht möglich, da die Ermittlungen noch nicht abgeschlossen sind, „aber die ersten Theorien sind durchaus plausibel und basieren auf Fakten“. Er glaubt, das Flugzeug sei versehentlich von Russland angeschossen worden, danach durch die elektronische Kriegführung noch unkontrollierbarer geworden und die Behörden hätten dann noch versucht, das alles zu vertuschen. Bedauerlicherweise erwähnte er aber in seinem Interview an keiner Stelle die Drohnenangriffe der Ukraine, die die russische Luftverteidigung und die elektronischen Kampfmittel überhaupt erst auslösten.

Es ist unklar, warum das so ist, aber es ist besser, wenn die Medien ihn direkt danach fragen, damit er Rechenschaft ablegen kann, anstatt dass Leute leichtfertig über Alijews Absichten spekulieren, weil es die bilateralen Beziehungen verschlechtern könnte, wenn ihn hochrangige Russen beschuldigen, ein doppeltes Spiel zu spielen. Die Situation ist verständlicherweise sehr heikel und muss daher von den Medien und Influencern auch so behandelt werden. Russlands Interesse besteht darin, ein strategisches Bündnis mit Aserbaidschan aufrechtzuerhalten. Jeder, der dieses Bestreben zwecks Einfluss und Aufmerksamkeit aufs Spiel setzt, schadet daher Russland.

Alijew erwähnte außerdem, dass er es „kategorisch ablehne“, das Interstate Aviation Committee (IAC) die Angelegenheit in führender Rolle untersuchen zu lassen, da „es kein Geheimnis ist, dass diese Organisation hauptsächlich aus russischen Beamten besteht und von russischen Bürgern geleitet wird. Objektivität könnte hier nicht vollständig gewährleistet werden“. Für diejenigen, die es nicht wissen: Das IAC hat seinen Sitz in Moskau und ist mit der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) verbunden. Das Komitee wird zwar an der Untersuchung teilnehmen, diese aber nicht leiten.

Außerdem sagte Alijew: „Einige glauben, dass das Flugzeug von der Bodenkontrolle in Grosny absichtlich vom Kurs abgebracht wurde, weil das Flugzeug bereits außer Kontrolle geraten war und eine hohe Wahrscheinlichkeit bestand, dass es ins Meer stürzen würde. Wenn dies der Fall gewesen wäre, wären die Vertuschungsversuche erfolgreich gewesen und die sogenannte Vogeltheorie wäre als die wahrscheinlichste Version präsentiert worden.“ Er stellte klar, dass er nicht voreilig Aussagen über das Geschehen machen wolle, sondern nur seine Meinung zu „offensichtlichen Fragen“ äußere.

Dennoch spekuliert er offensichtlich über die Motive der lokalen Flugsicherungsbeamten. Aber natürlich fühlt er sich auch von seinem Volk unter Druck gesetzt, die Theorien zu kommentieren, die von vielen derzeit diskutiert werden. Daher hat er letztlich sein Verständnis von den nationalen Interessen über alles andere gestellt. Alijew beendete sein Interview mit der Forderung nach einer Entschuldigung, einem Schuldeingeständnis, einer strafrechtlichen Verfolgung der Verantwortlichen und einer Entschädigung für den aserbaidschanischen Staat und die Opfer dieser Tragödie.

Alijews Theorie über die Tragödie der letzten Woche ist faszinierend und wird sicherlich viele Anhänger im In- und Ausland finden, aber alle Beobachter müssen bedenken, dass es sich immer noch nur um eine Theorie handelt und dass er selbst während seines Interviews warnte, dass die endgültige Version der Geschehnisse noch nicht bekannt sei. Auch wenn an seinen Behauptungen über eine Vertuschung etwas Wahres dran ist (und auch das ist zum jetzigen Zeitpunkt reine Spekulation, da die Flugschreiber noch nicht analysiert wurden), dann kann dieser Umstand auf individuelles Fehlverhalten zurückzuführen sein und nicht notwendigerweise auf eine angebliche nationale Verschwörung.

Manche Menschen geraten in Krisenzeiten in Panik und verhalten sich auf sehr beschämende Weise, die sie bei klarem Verstand nicht an den Tag legen würden. Das soll keine Entschuldigung sein, sondern eine Erklärung menschlichen Verhaltens. Und das ist ja nicht nur auf Russen beschränkt, sondern betrifft jede ethnisch-nationale Gruppierung auf der Welt. Die Geschwindigkeit, mit der sich an diesem Tag im Verlauf der überraschenden Drohnenangriffe der Ukraine auf die zivile Infrastruktur in der Region diese Tragödie abspielte, widerspricht jeder glaubwürdigen Möglichkeit einer nationalen Verschwörung, bei der auch noch Putin selbst eine Rolle gespielt haben könnte.

Nehmen wir als Hypothese an, dass Splitter entweder von ukrainischen Drohnen oder von der russischen Luftverteidigung das Flugzeug genau zu jenem Zeitpunkt durchbohrten, als auch elektronische Kampfmittel eingesetzt wurde, um die Flugrouten der Angreifer zu stören, dann wäre all dies viel zu schnell passiert, als dass ein Beamter vor Ort auch noch Putin hätte benachrichtigen können. Dasselbe gilt für die angeblichen Anweisungen an die Piloten, anstatt irgendwo in der von der Ukraine angegriffenen Region des Nordkaukasus besser eine Notlandung in Kasachstan durchzuführen.

Der Einsatz von Luftverteidigungsmitteln, der Einsatz elektronischer Kampfmittel in der Region sowie die Umleitung ziviler Flüge sind Standardreaktionen bei Drohnenangriffen. Nichts ist daran skandalös. Letzte Woche ist offenbar etwas schiefgelaufen, abgesehen von den wenig glaubwürdigen Vogelschlag- oder Gasflaschen-Theorien, die sogleich auf russischer Seite nach der Tragödie in die Welt hinausposaunt wurden und die Alijew zutiefst beleidigten, wie er in seinem Interview eingestand. Allerdings könnten auch für diese möglichen Verwirrungen in Panik geratene Beamte verantwortlich sein und nicht der Kreml.

Für Russen, „nichtrussische Prorussen“ und andere russlandfreundliche Mitglieder der diversen Medien, die nicht zum Mainstream zählen, ist es wichtig, sich daran zu erinnern, dass Alijew ausdrücklich sagte, er glaube, dass das Geschehene ein Unfall war, er sei jedoch sehr verärgert über all das, was er zugleich als eine Reihe von Vertuschungsversuchen vermutet, angefangen bei den anfänglichen Theorien über die Umleitung des Fluges nach Kasachstan bis hin zur Einbeziehung des IAC. Nicht ein einziges Mal hat er irgendetwas gesagt, das auch nur im Entferntesten als eine Verwicklung von Putin in die Sache interpretiert werden könnte.

Auch Alijew weiß, wie wichtig die Bewahrung der strategische Allianz Aserbaidschans mit Russland ist, ebenso wie sein Gegenüber. Aber jetzt müssen auch die Medien und Meinungsmacher beider Seiten diesem Beispiel folgen, indem sie sich verantwortungsbewusst verhalten und die jeweils andere Seite nicht ungehörig beschuldigen. Angesichts der Brisanz des Geschehenen und der Spekulationen, die jetzt im Umlauf sind – darunter auch jene, denen Alijew selbst Glauben geschenkt hat –, wird das manchen Leuten zugegebenermaßen schwerfallen. Aber es ist im Interesse aller, jetzt mehr Selbstbeherrschung zu üben.

Übersetzt aus dem Englischen

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