Mit siebzehn hat man noch Träume? Mit neunzehn warten heute wieder ganz andere, sehr reale „Herausforderungen“. Auch wenn sich manch Betroffener vielleicht auf den kostenlosen Führerschein freut – geschenkt ist der nicht und auch nicht fürs erste Auto bestimmt! Das damit drohende Schicksal besangen nicht nur im Westen viele in der Friedensbewegung – dank der Mahnung von Hannes Wader „Es ist an der Zeit“, die heute nicht weniger aktuell ist als 1980. Im Osten wurde für viele DDR-Bürger der autobiografische Film „Ich war neunzehn“ von Konrad Wolf unvergesslich. Heute, am 20. Oktober 2025, wäre Konrad Wolf 100 Jahre alt geworden.
Von Felix Duček
Langsam dämmert es wohl vielen – nicht nur den (bald) Neunzehnjährigen, sondern auch deren Eltern. Die Deutsche Presseagentur (dpa) kam unlängst nicht umhin zu melden, dass sich bei der vor über 130 Jahren durch Bertha von Suttner mitgegründeten Deutschen Friedensgesellschaft – Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen (DFG-VK) die Seitenaufrufe im Internet von August zu September mehr als verdoppelt haben – auf über 125.000 Aufrufe pro Monat. Diese Beunruhigung in der Bevölkerung ist im Osten nicht geringer als im Westen, eher noch größer. Und das hat Gründe. Denn viele Bürger der DDR erkannten, dass „die Russen“, also eigentlich die sowjetische Rote Armee, 1945 als Befreier von der Nazi-Diktatur bis nach Deutschland gekommen waren.
Der 19-jährige Konrad Wolf war einer von diesen Befreiern. Geboren am 20. Oktober 1925 in Hechingen als Sohn des Arztes und Schriftstellers Friedrich Wolf, musste er mit seiner Familie 1933 über Österreich, die Schweiz und Frankreich emigrieren, bis sie schließlich am 2. März 1934 in Moskau ein neues Zuhause fand. Dort besuchte er die deutsche Karl-Liebknecht-Schule und die russische Fritjof-Nansen-Schule. Als 17-Jähriger wurde er im Dezember 1942 den Einberufungsbefehl zur Roten Armee, statt sich auf ein Studium am Technikum vorzubereiten. Er nahm alle Herausforderungen auf sich und führte dabei ab 18. März 1943, soweit es ihm die Umstände erlaubten, in drei kleinen, auf Russisch eng beschriebenen Notizbüchern auch noch ein Kriegstagebuch. Mit einem Zitat vom zweiten Tag seiner Eintragungen – nach einem tödlichen Angriff deutscher Bomber auf seinen Stationierungsort Kabardinka am Schwarzen Meer (in der Region Krasnodar): „Aber ich sah ja selbst, das war der Krieg“ ist ein Sammelband der Edition „Die Möwe“ betitelt, der vor zehn Jahren in Zusammenarbeit mit der Akademie der Künste erschien. Dort sind nun auf Deutsch übersetzt sowohl die Kriegstagebücher von Konrad Wolf als auch viele seiner Briefe an die Eltern, Geschwister und Freunde dokumentiert.
Dieses Buch vermittelt eindringlich, wie der Jugendliche Konrad Wolf nach der Kriegswende in Stalingrad quasi im Eilmarsch von Osten gen Westen als Übersetzer, Dolmetscher bei Verhören, Sprecher bei Lautsprecherappellen an der Front für die gegnerischen Soldaten erwachsen und Kommunist wurde. Es dokumentiert authentisch viele persönliche Erlebnisse der Greueltaten beim Angriff und Rückzug der Deutschen in der Sowjetunion und den seelischen Zwiespalt, den diese Eindrücke bei Konrad Wolf verursachte – gegenüber seiner mittlerweile sowjetischen Heimat und seinem deutschen Vaterland, in das er als Sieger und Befreier, aber als Fremder zurückkehren würde.
Unmittelbar nach Kriegsende arbeitete der sowjetische Offizier deutsche Abstammung ab Ende Mai kurze Zeit als Korrespondent der Berliner Zeitung unter Fritz Erpenbeck und trifft so auch mit Otto Winzer und Wilhelm Pieck zusammen. Später begutachtet er Filme aus der Nazizeit – Propagandastreifen und seichte Heimatfilme – hinsichtlich deren künftiger Verwendbarkeit. So versucht er auch, das Volk seines „Vaterlandes“ zu begreifen, um dort die geistige Erneuerung und den entnazifizierten Neuaufbau zu unterstützen.
Nach seinem Abitur 1948 konnte er endlich ab 1949 in Moskau am Staatlichen Institut für Kinematographie, unter anderem bei Michail Romm, dem Regisseur des Films „Der gewöhnliche Faschismus“, studieren. Anfang der 50er Jahre Regieassistent bei Joris Ivens und bei Kurt Maetzig, der zusammen mit Hans Klering u.a. am 17. Mai 1946 in Potsdam-Babelsberg von Oberst Sergej Tjulpanow die Gründungslizenz für die DEFA entgegennahm. Schon als Junge in Moskau hatte er im Kindertheater mit Ernst Busch ein Stück über den Spanischen Bürgerkrieg eingeübt und war durch eine kleine Rolle im Film „Kämpfer“ von Gustav von Wangenheim von diesem Genre fasziniert. So verarbeitete er also viele seiner frühen Erlebnisse ab Mitte der fünfziger Jahre in der DDR als Filmregisseur – mit wachsender nationaler Anerkennung und internationalem Erfolg.
Erfreulicherweise bietet das Filmtheater Babylon in Berlin als weltberühmte Kultstätte der Filmgeschichte ab dem heutigen Tag des Jubiläums in dieser Woche eine ganze Reihe dieser berühmt gewordenen Filme unter der Regie von Konrad Wolf. Den Auftakt bildet heute Abend sinnvollerweise sein autobiografischer Film „Ich war neunzehn“, zum dem Wolfgang Kohlhaase das Drehbuch (wie auch das Vorwort zum Kriegstagebuch von Konrad Wolf) schrieb. Dieser Film ist neben den weitgehend autobiografischen Aspekten ein eindringlicher Appell, alle erdenklichen Mittel und Kräfte zu sammeln, die Lehren aus der Geschichte zweier Weltkriege endlich wieder zu begreifen und eine breite Friedensbewegung in diesem Land wiederzubeleben, die den Kriegstreibern in den Arm fällt. Darin können und müssen sich alle besonnenen Menschen dieses Landes zusammenfinden, wenn sie sich und ihre Nachkommen an Filme wie „Ich war neunzehn“ oder Hymnen wie „Es ist an der Zeit!“ erinnern.
Das letzte Filmepos, an dem Konrad Wolf arbeitete, war eine Hommage „Busch singt“ für den Sänger, Dichter, Schauspieler, Kommunisten Ernst Busch. Den hatte er bereits in Moskau als Spanienkämpfer kennengelernt. Die Internationalen Brigaden unterstützten bekanntlich ab Sommer 1936 die Verteidiger der Spanischen Republik im gerechten Kampf gegen die Putschisten unter dem General und späteren Diktator Franco, die von Nazi-Deutschland mit der berüchtigten Legion Condor und von ebensolchen italienischen Kontingenten auf Befehl Mussolinis unterstützt wurden. Konrad Wolf verehrte seitdem Ernst Busch, der die Nazidiktatur durch Glück überlebte, und blieb ihm später freundschaftlich verbunden bis zu seinem Tod. Und so verwundert es nicht, dass gegen Ende des Films „Ich war neunzehn“ in einer Szene mit einem deutschen Kommunisten einem gerade befreiten Dorf das Lied von der Jarama-Front „Am Rio Jarama – Februar 1937“ (mit dem Text von Ludwig Detsinyi) als eines der beeindruckendsten Lieder der Spanienkämpfer erklingt, das Ernst Busch mit komponiert und gesungen hat. Dieses Lied und andere wurden während des Spanienkriegs erstmals 1938 aufgenommen bei Odeon in Barcelona, 1940 bei Polydor in Paris, 1946 in Berlin bei „Lied der Zeit“ und fanden schließlich in einer Neuaufnahme auf Aurora-Schallplatten 1963 unter dem Titel „Canciones de las Brigadas Internacionales“ in der DDR große Verbreitung und Bekanntheit.
In diesem Sinne sei auch noch einmal an die eindringliche Mahnung von Hannes Wader mit dem Lied „Es ist an der Zeit!“ von 1980 erinnert, das auch später noch, etwa aus Anlass der Proteste gegen den Irakkrieg im Jahr 2003 mit Konstantin Wecker und Reinhard Mey, erklang. Eine emotional tief bewegende Interpretation aller drei Künstler gemeinsam ist 2014 vom Bayerischen Rundfunk aufgenommen worden und heute noch bei YouTube abrufbar. Solche Lieder zeigen eines: Die Friedensbewegung in Ost und West hat gemeinsam ein reiches kulturelles Erbe, das aufrütteln kann und viele Menschen gerade in diesem Deutschland heute zu besonnenen Entscheidungen und zum Handeln führen muss. Dafür sollte es den Älteren wieder in Erinnerung gerufen, den heute besonders betroffenen Jüngeren mit dem gebührenden Nachdruck (vielleicht sogar erstmals) zur Kenntnis gegeben werden, um zum Nachdenken anzuregen.
Das Programm im Babylon aus Anlass des 100. Geburtstages von Konrad Wolf ist übrigens sowohl im jüngsten Babylon-Newsletter als auch im Internet zu finden, wo auch noch Karten (sogar teils kostenfrei) etwa für „Goya oder der arge Weg der Erkenntnis“, „Sonnensucher“, „Der geteilte Himmel“, „Sterne“, „Der nackte Mann auf dem Sportplatz“ oder „Solo Sunny“ gebucht werden können. Als ein liebevolles Schmankerl lädt das Babylon nach der heutigen Aufführung des Film „Ich war neunzehn“ obendrein zum gemeinsamen Verzehr von Pelmeni ein. Wer den Film noch nicht kennt, dem sei erklärt, das eine berühmte Szene in dem Film jene Episode beschreibt, als Rotarmisten im Kollektiv für ein Fest aus Anlass der Befreiung Deutschlands tausende Pelmeni vorbereiten. Also auch Pelmeni dürfen nicht fehlen, wenn man das Leben und Schaffen von Konrad Wolf für die unvergessliche und wahrhaft dauerhafte Verständigung zwischen Russen und Deutschen heute würdigen will!