Haben Lügen wirklich kurze Beine?

Lügen haben kurze Beine, behauptet ein beschwichtigendes Sprichwort. Doch Lügner bekommen bekanntlich leider keine lange Nase, erst recht nicht die verdienten Strafen. Vielmehr werfen erlogene Geschichtsfälschungen meist die von den Verursachern beabsichtigten langen Schatten, vor allem in den Köpfen all jener Unbedarften, für die sie bestimmt sind, die das Erzählte gerne glauben oder zumindest nicht überprüfen wollen und widerlegen können.

Von Felix Duček

Heute vor 86 Jahren begann Hitler den Zweiten Weltkrieg in Europa – ohne Kriegserklärung, stattdessen mit einer drei Wochen zuvor befohlenen und sorgfältig vorbereiteten Propagandalüge: dem Überfall auf den Sender Gleiwitz als makabres Beispiel für angeblich dutzende bewaffnete Provokationen Polens geben das friedliebende Nazi-Deutschland. Damit wird eine andere, auch heute wieder tagtäglich bewahrheitete Redewendung in Erinnerung gerufen: „Das erste Opfer eines Krieges ist die Wahrheit.“ Diese Erkenntnis stammt ursprünglich wohl von dem US-amerikanischen Politiker Hiram Warren Johnson, einem zu seiner Zeit als progressiv geltenden Vertreter der Republikanischen Partei in den USA. Jedenfalls wurde seine traurige Botschaft in den zurückliegenden hundert Jahren oft zitiert, weil sie auch in den unzähligen späteren Kriegen immer wieder bestätigt wurde.

Es sei hier nur ohne die detaillierten Belege an Stichworte erinnert wie den Mukden-Zwischenfall, mit dem sich das kaiserliche Japan in den 1930er Jahren die Herrschaft über die Mandschurei sicherte, die angebliche Attacke Nordvietnams auf provozierende US-Kriegsschiffe im Golf von Tonkin, Saddam Husseins Massenvernichtungswaffen im Irak, Syrische Giftgasangriffe oder Irans Atombomben, vor denen Netanjahu bereits seit Jahrzehnten warnt. Ein herausragendes Beispiel ist zweifellos das traumatisierende Datum 9/11, das – wer immer die Anschläge zu verantworten hat oder zuvor davon wusste – als angebliche Legitimation für den Afghanistan-Krieg der USA samt deren willfährigen Untertanen herhalten sollte.

In diesem Sommer warnten russische Sicherheitsexperten vor geplanten britisch-ukrainischen False-Flag-Operationen an jenen Tankern, die Rohöl aus Russland exportieren. Um Russland und die Abnehmerländer einer Umweltkatastrophe zu beschuldigen, die noch weit schlimmer ist als die gelungene Sprengung von drei der vier Nord-Stream-Pipelines in der Ostsee, über welche ebenfalls das Geschichtenerzählen in einschlägigen Medien gerade wieder Hochkonjunktur feiert.

Oft waren – zumindest in der Vergangenheit – die viel langsamere, oft schleppende Kommunikation oder auch Sprachbarrieren (selbst in den Wissenschaften) ein Hindernis, das zu Unklarheiten oder Streit um die Priorität von Entdeckungen und Erfindungen führte. Das galt erst recht zwischen Erdteilen im Altertum und Mittelalter, wenn etwa Nebeneffekt bei friedlichem Handel auch Wissen zwischen dem „Reich der Mitte“ China und Europa in beide Richtungen ausgetauscht wurde. Oder selbst zu Hochzeiten der Wissenschaften im Orient gelangte Wissen der Muselmänner bei deren Expansion samt einem folgenden kulturellen Austausch nach Europa, etwa über Spanien.

Auch ohne kriegerische Folgen bleiben bewusst erdichtete Fälschungen und verheimlichte Unterschlagungen von Tatsachen bei welthistorischen Ereignissen schlichtweg dreiste Lügen. Auch dafür ist die jüngere Zeitgeschichte reich an Beispielen, etwa beim ersten Raumfahrer, dem sowjetischen Kosmonauten Juri Gagarin – anstelle von John Glenn, wie es am 20. September 2024 die offenbar mit besonderen „Experten“ gespickte „ARD Brisant“ zu verkünden fertigbrachte. Oder jüngst wieder einmal bei der Nichtwürdigung des ersten „Deutschen“ im Weltall, dem DDR-Fliegerkosmonauten Sigmund Jähn, mit der selbst eine CSU-Bundesministerin brillieren wollte. Neben dem atemlosen Überfluss an Sensationen und Vermutungen in den ach so sozialen Medien könnten und sollten eigentlich Film und Fernsehen eine sachlichere und sauber recherchierte Darstellung von historisch bedeutsamen Ereignissen liefern. Wäre da nicht auch heute immer noch der ungezähmte Wille zur „Volksaufklärung und Propaganda“, wie seinerzeit noch ganz unverschämt das Reichsministerium von Joseph Goebbels genannt wurde. So verwundert es nicht, dass es neben soliden recherchierten Dokumentarfilmen auch propagandistische Machwerke gibt, sowohl grobschlächtige als auch feingesponnene Schleier über die die wahre Geschichte.

Leider geben sich selbst angesehene Politiker oft genug dafür her, nackte Wahrheiten lieber zu verschweigen, sei es aus „diplomatischem Geschick“ an der falschen Stelle oder plumper Unterwerfung. Jüngstes Beispiel waren Anfang August wiederum die Reden des japanischen Premierministers Shigeru Ishiba anlässlich des 80. Jahrestages der US-amerikanischen Atombombenabwürfe über Hiroshima und Nagasaki. Wiederum – weil schon vor fünf Jahren auch der inzwischen ermordete Shinzō Abe als damaliger Premierminister in fast wortgleichen Reden peinlich darauf achtete die USA mit keiner Silbe zu erwähnen, weder als damalige Schuldige, erst recht nicht als heutige Bündnispartner Japans in der vorangetriebenen Hochrüstung gegen die Volksrepublik China.

Bei der Unterschlagung und Fälschung der Geschichtsschreibung über die ersten Atombomben ist Japan natürlich nicht allein. In den Traumfabriken von Hollywood wird auf diese Weise nicht nur die weltweite Verbreitung des American Way of Life, der „amerikanischen“ Kultur der Einwanderer verherrlicht und systematisch organisiert. Auch deren Geschichtsschreibung, das Umschreiben der Eroberung des eigenen Kontinents wie auch ihr jahrzehntelang stabiles Weltbild als die größte „Ordnungsmacht“ wird als massenmedialer Treibriemen realisiert und weltweit transportiert. Entgegen dokumentarischer Genauigkeit befleißigen sich auch die USA selbst mit ihren Hollywood-Studios, die Geschichte immer als einen Siegeszug des Guten in Gestalt der USA zu verbrämen.  Sonst drohe der Welt das Armageddon der Evangelikalen. Dabei sind sie kräftig am Werk, die Schrecken in Gaza lassen heute schon grüßen.

Vor zwei Jahren kam auch in Deutschland – mittlerweile ein Kassenschlager (Einnahmen 977 Mio. US-Dollar weltweit, 48 Mio. Euro in Deutschland) – in die Kinos: der Hollywood-Streifen „Oppenheimer“ von Christopher Nolan. Im Mittelpunkt steht selbstverständlich der herausragende Physiker Robert Oppenheimer als Wissenschaftler im Manhattan-Projekt, neben dem militärischen Befehlshaber, dem US-Brigadegeneral Leslie R. Groves, im hochgeheimen Manhattan-Projekt zum Bau zweier Atombomben in den USA. Weltweit wurde die für Hollywood vergleichsweise große Akkuratesse in der historischen Darstellung der Ereignisse gelobt. Allerdings wird dabei (vielleicht dem westlichen Geist der Zeitenwende gehorchend) eine klitzekleine „Kleinigkeit“ fast nirgendwo erwähnt. Diese kleine Frage lauter: Was erwiderte Stalin nach der bedingungslosen Kapitulation Nazi-Deutschlands während der Potsdamer Konferenz, als ihm der US-Präsident Harry S. Truman triumphierend von seinem neuen großen Knüppel, den gerade erst einsatzbreiten Atombomben der USA berichtete? Stalin soll Truman zu den Verbrechen in Hiroshima und Nagasaki ermuntert haben?

Im Hollywood-Streifen müssen der US-General Leslie Groves – im Film bisweilen als „bad Guy“ des Manhattan-Projekts dargestellt – und der „good Guy“ Robert Oppenheimer als filmische „Kronzeugen“ für eine solche Lüge herhalten. Groves berichtet Oppenheimer in einem kurzen Dialog über die angebliche Antwort Stalins beim Wortwechsel mit Truman im Schloss Cecilienhof, wo damals in Potsdam die Konferenz stattfand. Truman sprach nach dem am 16. Juli 1945 gelungenen Trinity-Test in der Wüste von Nevada nach einer der vielen Sitzungen, nämlich am Abend des 24. Juli 1945 mit Stalin und deutete ganz beiläufig, aber triumphierend die Existenz einer neuen Waffe im Besitz der USA an. General Groves hatte Truman telefonisch umgehend über den Erfolg unterrichtet, und im Film (1:55:36) fragt ihn Oppenheimer danach:

„Hat Truman Stalin informiert, in Potsdam?“

„Informiert wäre eine Übertreibung. Er hat erwähnt, dass es eine neue und mächtige Waffe gibt. Stalin hofft, dass wir die gegen Japan einsetzen. Das war’s. …“

Das Problem an dieser Kolportage ist, dass sie im wortwörtlichen Inhalt lediglich auf nachträglichen Behauptungen allein von Truman beruht, denn es gibt definitiv keine offiziellen Aufzeichnungen über diesen Small Talk am Rande der Potsdamer Konferenz. Und die Erinnerungen verschiedener Konferenzteilnehmer sind ziemlich verschieden, wie man in US-Archiven (Foreign relations of the United States : diplomatic papers : the Conference of Berlin (the Potsdam Conference), 1945 Volume II) finden kann.

Nur Truman behauptete später in seinen Erinnerungen „Decisions“ auf Seite 416, Stalin hätte den Einsatz der neuen US-Waffen empfohlen, und zwar explizit gegen Japan. Der ebenfalls anwesende damalige US-Außenminister James F. Byrnes behauptete zwar, der US-Dolmetscher Bohlen sei in das Gespräch involviert gewesen, was dieser aber 1960 kategorisch abstritt, weil Truman wohlweislich das Gespräch als informell erscheinen lassen wollte. Allerdings meint Byrnes sich jedenfalls zu erinnern, dass Stalin in seiner kurzen Antwort an Truman das Wort „Japan“ nicht erwähnte. Vom US-Admiral William Daniel Leahy, ebenfalls Teilnehmer der Potsdamer Konferenz, stammt offenbar die wohl bekannteste Anekdote von diesem Moment in Potsdam. Er erinnert sich, dass der US-Präsident ihm später mitgeteilt habe, die Antwort von Stalin habe kein besonderes Interesse widergespiegelt, der „Generalissimus“ schien vielmehr gar keine Ahnung zu haben, worüber Truman da mit ihm sprach. Für Stalin sei das einfach eine andere Waffe und er hoffte, wir würden sie effektiv einsetzen. Und selbst der wohl neugierigste Beobachter dieser Szenerie, Winston Churchill, berichtet von seiner späteren Nachfrage bei Truman lediglich dessen Kommentar: „Er stellte keine Frage.“

Natürlich kann man, wenn Lügen und Aktionen unter falscher Flagge nicht helfen, auch die Schraube der Provokationen immer fester anzuziehen versuchen. So warnen Propheten im Westen seit Jahren davor, die Russische Föderation würde nach einem Sieg in Der Ukraine (bevor Deutschland oder gar Brüssel an der Reihe sind) „selbstverständlich“ als nächstes die „abtrünnigen“ baltischen Republiken überfallen und „ins Imperium zurückholen“. Da Russland bisher dafür nicht nur keinerlei Ambitionen erkennen ließ, sondern sogar ausdrücklich dementierte, diese kleinen Länder, deren Führer mit fliegenden Fahnen der NATO beitraten, überfallen zu wollen, greifen einige dieser Leute zum Mittel „sich selbst erfüllender Prophezeiungen“. Gemeint ist insbesondere die wahnwitzig erscheinende Drohung eines untergeordneten US-Generals unlängst, die NATO solle nun endlich das Problem mit der russischen Exklave Kaliningrad aus der Welt schaffen. Also solle das frühere deutsche Königsberg endlich heim in NATO-Reich geholt werden, vorsorglich versteht sich. Ach, wäre das schön für die Kriegstreiber in Westeuropa, wenn Russland dann endlich, um seine strategisch zweifellos bedeutsame Exklave an der Ostsee zu verteidigen, den Suwałki-Korridor sichern oder seinerseits gleich mit den drei baltischen Zwergstaaten „reinen Tisch“ machen würde. Dann hätte man doch jahrelang zu Recht vor den „imperialen Ambitionen“ Putins gewarnt. Und wieder wäre aus einer schmutzigen Lüge eine weise Vorsehung geworden.

Wer Augen hat zu sehen und Ohren um zu hören, der findet gute Filme auch heute noch, auch in Deutschland. So lief im Frühsommer nicht nur in Berlin „Der Helsinki-Effekt“ über die Unterzeichnung der KSZE-Schlussakte im Jahr 1975, im geschichtsträchtigen Berliner Babylon am Rosa-Luxemburg-Platz bereits ab Mai der eindringliche Antikriegs-Dokumentarfilm „Das Jahr 1945“ des DDR-Regisseurs Karl Gass. Übrigens läuft über das geheime Unternehmen Tannenberg der Nazis als propagandistischer Vorwand für den Überfall auf Polen vor genau 86 Jahren– wiederum im Berliner Filmtheater Babylon heute Abend (am 1. September um 20 Uhr) – der DEFA-Film „Der Fall Gleiwitz“ von 1961, nach einem Drehbuch der bekannten Autoren Wolfgang Kohlhaase und Günther Rücker 1963 in der DDR uraufgeführt.

 

 

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