Bertolt Brecht schrieb 1935 im Svendborger Exil in Dänemark sein kurzes Gedicht „Fragen eines lesenden Arbeiters“. Diese Lyrik mahnt jeden, die tatsächlichen Beschreibungen historischer Berichte in ihrer Kürze – die erfahrungsgemäß umso kürzer sind, je mehr Zeit verstrichen ist – genauer zu hinterfragen. Das betrifft vor allem die Akteure, also viele handelnde Personen, die nur allzu gern hinter namhaften Persönlichkeiten als Namenlose verschwiegen werden. Auch Brecht beendet sein Gedicht daher mit der Feststellung: „So viele Berichte. So viele Fragen.“
Von Felix Duček
Ein lohnender konkreter Anlass, dieser Frage nachzugehen, in der Geschichtsschreibung nach Antworten zu graben und Personen aus der Vergessenheit zu holen, ist der 7. November als Jahrestag der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution in Russland 1917, wie sie zu Zeiten der Sowjetunion genannt wurde. Warum sollte solch eine Suche ergiebig sein? Ist nicht längst alles bekannt darüber? Jeder halbwegs politisch Interessierte weiß doch: Lenin hat mit den Bolschewiki der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands SDAPR (auf großdeutsch „Bolschewisten“) kurzerhand die Provisorische Regierung weggeputscht und die Sowjetmacht an sich gerissen. Oder?
Nun, diese Oktoberrevolution (Anfang November nach Gregorianischem Kalender) war ja nur der vorläufige Schlussakkord im für Russland schier unglaublich wilden, turbulenten Jahr 1917 – gegen Ende des Ersten Weltkriegs. Das Jahr hatte mit der Februarrevolution begonnen, und somit wurde zwar bereits das Ende der Zarenmonarchie besiegelt. Damit war aber für Russland weder der Erste Weltkrieg beendet, noch wurden im Innern geordnete, geschweige denn akzeptable soziale Zustände (Frieden, Brot und Arbeit) hergestellt. Ganz im Gegenteil: mit dem Übergang der Macht auf eine Provisorische Regierung (zuerst geführt vom Fürsten Lwow) begannen die Turbulenzen immer heftiger zu werden, solange die Doppelherrschaft von politisch sehr gemischt zusammengesetzten Arbeiter- und Soldatenräten, den Sowjets, und der von konterrevolutionären Intrigen zerrütteten Provisorischen Regierung in der Hauptstadt Petrograd andauerte. Innerhalb eines halben Jahres ab Februar wechselte die Provisorische Regierung vier Mal, bis sie schließlich unter Kerenski und den Putschversuchen vom zaristischen General Kornilow zwar immer desolater, aber keineswegs friedfertiger wurde.
Aber wo war denn nun Lenin? Lenin lebte schon viele Jahre in der Emigration, seit 1915 im schweizerischen Bern, später in Zürich, wo er noch im Dezember 1916 Scherereien mit den Behörden um die Verlängerung seiner auslaufenden Aufenthaltsgenehmigung in der Schweiz auszufechten hatte. Wenn er auch in Zürich voller Unruhe die Februarrevolution in seiner Heimat verfolgte, so versäumte er dennoch nicht seine anderen übernommenen Pflichten. So wurde – wie alljährlich zum Gedenken an die Pariser Kommune – in der Uhrmacherstadt La Chaux-de-Fonds für eine Märzfeier am Sonntag, dem 18. März 1917, plakatiert, und zwar mit den Festrednern Lenin (in deutscher Sprache) und dem Schweizer Ernest-Paul Graber (in Französisch). Lenin hatte in der Schweiz auch Anfang September 1915 in Zimmerwald in der Nähe von Bern bereits auf der „Zimmerwalder Konferenz“ versucht, eine europaweit geschlossene Friedensfront der Sozialdemokratie zu schmieden, woraus als Teilerfolg zumindest eine viel beachtete Resolution der dort gebildeten Gruppierung „Zimmerwalder Linke“ hervorging, gemeinsam mit Grigori Sinowjew, Karl Radek aus Polen, Fritz Platten aus der Schweiz, Jan Bersin aus Lettland und anderen. Ebenso hatte Lenin dann im April 1916 in Kiental im Berner Oberland an der Folgekonferenz teilgenommen.
Nun, im Frühjahr 1917 kam seinem Bestreben, unmittelbar an den Umwälzungen in seiner Heimat teilzunehmen, entgegen, dass er von Politikern in Deutschland als Schachfigur einer Kriegslist gegen Russland benutzt werden sollte, indem ihm in Berlin die Rolle zugedacht wurde, die revolutionären Kräfte in Russland erstarken zu lassen, um Russland als Kriegsgegner entscheidend zu schwächen. Viel ist bereits über die damaligen komplizierten diplomatischen Manöver und konspirativen Geplänkel der geheimen Reise von mehr als 30 russischen Emigranten (und Bolschewisten!) aus der Schweiz in verplombten Waggons durch das kaiserliche Deutschland über Schweden nach Finnland und schließlich bis nach Petrograd geschrieben worden. Auch der triumphale Empfang durch eine riesige Menschenmenge am Abend des 3. April 1917 vor dem Finnländischen Bahnhof in Petrograd ist reichlich dokumentiert – von Anhängern der Bolschewiki wie von deren Gegnern.
Weniger bekannt sind die vielen Debatten, Richtungskämpfe innerhalb der russischen Sozialdemokratie, die politischen Intrigen und Machtkämpfe der verschiedenen bürgerlichen und sonstigen politischen Strömungen. Zumindest Lenin betreffend gibt es aber beachtenswerte und ergiebige Dokumentationen der Sichtweisen und Bewertungen der Ereignisse von Zeitzeugen, die im Folgenden herangezogen werden. Auch mit den Anfang April verkündeten, wahrhaft revolutionären „Aprilthesen“ für seine Ideen einer wahrhaft Sozialistischen Revolution hatte Lenin keineswegs schon die „Sowjetmacht“ errungen, ganz im Gegenteil. Selbst unter den eigenen Genossen der Bolschewiki gab es mehrheitlich zunächst harschen Widerspruch oder zumindest Bedenken gegen diese Ideen, von den Menschewiki der russischen Sozialdemokratie erst recht, und von den bürgerlichen Fraktionen der Provisorischen Regierung ganz zu schweigen. Die politischen Zustände und Konflikte wurden in der Zeit der Doppelherrschaft vielmehr so unhaltbar, dass Lenin seit der blutigen Niederschlagung von Demonstrationen im Juli 1917 und durch gezielte persönliche Verleumdungen als angeblicher deutscher Spion, vor allem aber als prominenter Revolutionär in Lebensgefahr schwebte. Und das obwohl die Bolschewiki im Sommer den Demonstrationen der Massen aus Unzufriedenheit mit der Fortsetzung des Krieges und mit der Politik der Provisorischen Regierung einen friedlichen Charakter für die Erhaltung der Einflussmöglichkeiten der Sowjets zu geben versuchten. Lenin wurde öffentlich von der Provisorischen Regierung steckbrieflich gesucht, aber andererseits war am 18. Juni 1917 (gregorianisch am 1. Juli) in einem Geheimbeschluss der „Liga zum Kampf gegen den Bolschewismus“ bereits unverblümt vermerkt worden: „1. Uljanow, der sich Lenin nennt, [ist zu] töten.“
Lenin selbst hatte in dieser Zeit zunächst noch ernsthaft erwogen, sich der Verhaftung durch die Regierung nicht zu entziehen, sondern sich jeglichen Anschuldigungen vor Gericht zu stellen. Das Zentralexekutivkomitee der Bolschewiki sah die Lage so viel ernster, wie sie tatsächlich war und beschloss Mitte Juli 1917, Lenin wieder in die Illegalität zu verfrachten, zunächst in Wohnungen von Arbeitern in Petrograd, später als karelischer Schnitter in einer Laubhütte am Ufer des Sees Rasliw bei Sestrorezk. Er blieb dabei keineswegs tatenlos, sondern verfolgte die politischen Ereignisse genau, denn nahezu täglichen behielt er Kontakt durch verdeckte Besuche von Genossen des Zentralexekutivkomitees wie etwa G.K. Ordshonikidse. Bei jedem als zweckmäßig oder notwendig erachteten Ortswechsel war obendrein eine geeignete Verkleidung unerlässlich.
So konnte Lenin dennoch auch aus dieser neuerlichen Illegalität heraus maßgeblich die revolutionäre Arbeit der Bolschewiki beeinflussen, etwa den bedeutsamen, halblegalen VI. Parteitag Anfang August in Petrograd. Dort wurde nach der Unterwerfung der mehrheitlich noch sozialrevolutionär-menschewistischen Sowjets unter die Macht der Kerenski-Regierung das Ende der Doppelherrschaft konstatiert und vorerst die Losung „Alle Macht den Sowjets!“ zurückgestellt. Mitte August wurde das Wetter am See in der Laubhütte langsam zu herbstlich und regnerisch, so dass beschlossen wurde, Lenin weiter zu evakuieren, und zwar nach Finnland. Das gehörte zwar damals noch zum Zarenreich, konnte aber immerhin durch eine gut kontrollierte Grenze von der Region um Petrograd vor den Fahndungsaufrufen und Kopfgeldern auf Lenin besseren Schutz bieten. Allerdings wurde die Grenze in beide Richtungen bestens bewacht. So musste Lenin mit der Hilfe vieler Genossen selbst mit einem Passierschein für den vereinfachten kleinen Grenzverkehr als Arbeiter aus Sestrorezk zwischen der finnischen und russischen Seite der Grenze n eine andere Rolle schlüpfen. Es entstand im August ein später berühmt gewordenes Passbild Lenins samt Ausweis auf den Namen K. P. Iwanow, wofür Lenin rasiert, geschminkt und mit voller Haarpracht dank einer Perücke zu sehen ist.

In der Nacht vom 8. zum 9. August 1917 (22. August nach unserem gregorianischen Kalender) wurde Lenin somit nach Finnland gebracht. Sicherheitshalber aber nicht als normaler Zivilist, nach dem die Kerenski-Regierung ja fieberhaft fahndete, sondern als Heizer auf der Lokomotive der Eisenbahn Richtung Helsingfors (heute Helsinki). Lenin stieg an diesem Tag aber bereits 50 Kilometer hinter der Grenze in Terijoki (heute Selenogorsk) aus, nicht ohne seinem Genossen und Lokführer Hugo Jalava freundschaftlich die Hand zu drücken, wie dieser sich später erinnerte. Dieser Lokomotivführer Hugo Erikowitsch Jalava war 1874 in der Hauptstadt Sankt Petersburg des Zarenreiches und Vielvölkerstaat als Finne geboren worden, wie überhaupt das russische Imperium zu jener Zeit von „nur“ 44 Prozent Russen bevölkert wurde. Jalava war von 1906 bis 1917 bereits Mitglied der Sozialdemokratischen Partei Finnlands, später Mitglied der KPdSU und starb 1950 in Petrosawodsk.
Jalava war es auch, der schließlich in der entscheidenden Phase der Vorbereitung der Oktoberrevolution ein zweites Mal Lenin (zwischen dem 7. und dem 9. Oktober 1917, das genaue Datum konnte bisher wohl nicht mehr ermittelt werden) wiederum auf seiner Lokomotive 293 zurück nach Petrograd brachte. Das ZK hatte nun, am 3. Oktober 1917, den „… Beschluss gefasst, Iljitsch vorzuschlagen, nach Petersburg zu kommen, damit eine ständige und enge Verbindung möglich ist“. Sicher ist, dass Lenin am 10. Oktober julianischer Zeitrechnung wieder in Petrograd eine Sitzung leitete und sich am 14. Oktober in Jalavas Petrograder Wohnung mit führenden Genossen treffen konnte. Der finnische Staat 1957 der UdSSR jene denkwürdige, holzbeheizte Dampflokomotive H2 293 aus Anlass des 40. Jahrestages der Oktoberrevolution schenkte, und so steht sie heute noch als Denkmal am Finnischen Bahnhof von Sankt Petersburg.
Anzumerken ist in Bezug auf diese noch viel mehr ungenannte Details, dass erst dadurch nachvollziehbar wird, wie lebhaft, suchend, schwankend, vielfach diskutiert, dennoch irgendwann entschlossen unzählige Personen, im Kreise derer Lenin seine Ideen und Vorschläge nicht immer, aber oft genug überzeugend vertreten konnte, diese Revolution vorbereitet und gewinnen konnten. Auch wenn Lenin lange vorher und am Ende als der weltweit bekannteste Führer der Oktoberrevolution gilt. Dankenswert hervorzuheben sind die späteren Bemühungen auch deutscher, schweizerischer und insbesondere österreichischer Sozialdemokraten und Kommunisten bei der Sammlung und Ordnung von Belegen. So konnte etwa dank Arnold Reisberg, einst aus Wien, der nach seiner Emigration Ende der 1950er Jahre in die DDR kam (statt nach Österreich zurückkehren zu dürfen), im Jahre 1977 beim Verlag Philipp Reclam jun. Leipzig eine zweibändige Broschüre „Lenin – Dokumente seines Lebens“ (für 11 Mark der DDR) erscheinen. Dort sind unzählige Originalzitate von Lenins Wegbegleitern wie auch seinen gegnerischen Zeitzeugen zusammengetragen. Diese und andere Quellen führen dem interessierten Leser vor Augen, dass derartige Umwälzungen nicht allein von noch so herausragenden Einzelpersönlichkeiten durchgeführt, sondern nur als beharrlich durch Überzeugungsarbeit geschaffene Massenbewegung möglich sind. Oder wie es Lenin im September 1917 in seinem Artikel „Werden die Bolschewiki die Staatsmacht behaupten?“ voraussagte: „Ideen werden zur materiellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreifen.“ Ein Binsenweisheit, mag man glauben – aber sie gilt auch heute noch.
Abschließend sei angemerkt: Noch eine Erkenntnis droht heute oft in Vergessenheit zu geraten. Das kulturelle Erbe derartiger Bewegungen kann Herzen und Seelen erreichen und große Ideen mit einfachen Worten unvergesslich machen. Hier gilt mein Dank insbesondere der 1969 in Wien gegründeten Folk-Politrock-Band Schmetterlinge. Diese Gruppe schaffte es ab 1974 im Kollektiv von Künstlern, aber auch mit Studenten und Historikern, als Ergebnis umfangreicher Quellenstudien und teilweise kontroverser Diskussionen innerhalb von gut zwei Jahren die „Proletenpassion“ zu erarbeiten. Damit sollte als Gegenstück zur Geschichtsschreibung der Herrschenden eine lyrisch-musikalische Geschichte der Beherrschten, mit ihren Niederlagen, aber auch ihren Siegen künstlerisch vorgestellt werden. Das Jalava-Lied mit seinem Text von Heinz Rudolf Unger kann wohl zu Recht das populärste Lied aus dieser Proletenpassion genannt werden.
